Der Himmel reisst auf, für ein paar Momente blinzeln wir in die Sonne. In einer Einerkolonne kraxeln wir auf den Gipfel Chientalnollen auf 2467müm, die Skis und Splitboards haben wir ein paar Meter unterhalb davon deponiert. Oben angekommen verteilen wir High Fives, wie bei jedem Zielpunkt unserer Touren, und hier singen wir zur Feier des Tages ein «Tschiaiai». Der heutige Tag, es ist der fünfte Tag des siebentägigen Tourenlagers im Wallis, ist für viele das Highlight der Woche.
Der Weg ist das Ziel
Es ist die einzige Gipfelerklimmung dieser Woche – zu viele Höhenmeter hätten wir sonst in der 28-Köpfigen Gruppe zurücklegen müssen von Gluringen aus auf 1338 müm, wo unser gemütliches Lagerhaus steht. Wir touren im Hochtal Goms, also «mitten im Herzen der Schweizer Alpen», wie es auf der Gomser Tourismusseite angekündigt wird. Aber ziemlich im letzten Winkel der Schweiz, kurz vor dem Grimsel- und Furkapass. Während Tal vor allem bei Langläufer:innen beliebt ist, erkunden wir Mountainscouts bei frühlingshaften Schneeverhältnissen die höheren Lagen. Bergführer Rolf findet mit seiner Schneespürnase an jeder Exposition einen Pulver- oder wenigstens Sulzhang und selbst an Südhängen durch den Wald eine einigermassen fahrbare Abfahrt. Hauptsache nie die Skis ausziehen – auch nicht, wenn beim Aufstieg einige Meter über den blutten Waldboden führen.
Schneekunde mit Rolf
Bei den meisten Touren steigen wir knapp 1000 Höhenmeter auf, denn die schlechte Sicht, starker Föhn oder die Schneeverhältnisse lassen uns früher umkehren. Als wir auf der Abfahrt vom Hungerberg an einem windgeschützten, kurzzeitig sonnigen Hang gemütlich unsere liebevoll präparierten Sandwiches essen wollen, erhalten wir von Rolf die Anweisung, einen Schneehügel von zwei Metern Höhe zu schaufeln. Je nach Exposition formen wir ein anderes Gelände in den Berg, damit uns Rolf die deren Eigenheiten am 3D Modell erklären kann. Abends erläutert er uns vor der nächsten Tourenplanung mit Hilfe von Flipcharts die Entstehung von Föhn, Windkolks und Zastrugis (Kennsch nöd? Frag Google. Oder Rolf.) So lernen wir im Tourenlager nicht nur unsere Grenzen kennen, sondern auch viel über das richtige Planen und Verhalten rund um Touren.
Lustig ist das Lagerleben
Nach jeder Tour heisst es im Tal angekommen «Gömmer id Beiz?», und wir stürmen ein einheimisches Restaurant für einen Bügel, ein Stück Wähe und das Debriefing. Wir tauschen uns über das Wohlbefinden aus, diskutieren über die ideale Länge von Trink- und Verpflegungspausen und lassen den Tag Revue passieren. Da die meisten Touren nicht vor der Haustüre starten, nehmen wir dann am Abend den Bus oder Zug zurück zum Lagerhaus «Erlensand», wo uns im Keller ein angenehmes Düftchen entgegenweht. Schnell sind die paar wenigen Steckdosen im Haus mit Handyladegeräten besetzt. Beim Bau 1965 beschränkten sich die elektronischen Geräte im Haus wohl auf Rasierapparate und Mixer. Da es nur Gemeinschaftsduschen gibt, gehen wir gestaffelt duschen. Währen einige von uns erschlagen ein Powernap machen, dreht das Küchenteam des Abends die Musik auf und legt los mit Schnippeln und Rühren. Täglich zaubert eine andere Gruppe ein sehr leckeres Dreigangmenü. Das ausgeklügelte «Suppenkonzept» sieht vor, jeweils zwei Tage nacheinander dieselbe Suppe zu essen. Doch an mindestens fünf Abenden heisst es: «Es hat dann auch noch Weissweinsuppe». Apropos Wein: Im Lager haben wir zwölf Flaschen Rosé getrunken: als Öl für die Stimmbänder beim Singen mit «Jukebox Luis», der uns mit seiner Reisegitarre zu Göle, Mani Matter oder 77 Bombaystreet begleitet, oder als Nervenberuhigungsmittel, wenn wir Lagerklassiker wie Tichu, Codenames, Saboteur oder Ligretto spielen.
«Ströpfen» und viele Fragezeichen
Am Dienstagabend gibt es ein spezielles Abendprogramm: Walliser Fasnachtsbräuche. Wir fahren ins Nachbardorf Biel und lauschen dort in der «Grafenstube» mit gespitzen Ohren dem Vortrag des Vereins Grafschaft (https://kultur.grafschaft.ch/index.php/brauchtum/fasnacht) über einheimische Bräuche. Besonders in Erinnerung bleibt der Brauch zum «Gigelemäntag», der bis in die 70er Jahre jeweils am Montag vor dem Aschermittwoch stattfand. Burschen und Mädchen versuchten einander als erstes «zu ströpfen», also an den Haaren zu ziehen. Die erste Person, die eine andere ströpft, darf sich von ihr etwas wünschen, das an Ostern eingelöst wird – oft ein Müntschi (Kuss). Dieser und andere Bräuche werden heute nicht mehr praktiziert im Tal, einzig der Partnerball, früher «Gheiratne Ball», findet heute noch statt. Immer wieder schauen wir uns fragend an, da wir nur einen Bruchteil vom «Walliserditsch» verstehen. Nach dem Vortrag geniessen wir einheimische Köstlichkeiten wie «Chräpflini, Chruchtelä und warme Wii», also Krapfen, Fasnachstschüechli und Glühwein.
Das Beste zum Schluss
Fünf Skitouren und sechs durchgespielte und durchgesungene Nächte später geht das Lager zu Ende. Es sind weder Skis noch Felle noch Harscheisen verloren gegangen. Bis auf ein paar Blasen, Schnittwunden (scharfe Kanten) und Pfnüsel sind alle gesund und ganz geblieben. Pünktlich zum Ende des Lagers hat Frau Holle eine grosse Ladung Neuschnee geschickt. Wir bewundern vom Zug aus Richtung Göschenen das Goms im Winterkleid – und denken wehmütig an die harschigen Aufstiege und sulzigen Abfahrten zurück.










































